HAUS 19 007/2:

LESUNG REINHARD JIRGL

Menschenschwemme..... Vom Leben in der Tiefe

Textbearbeitung für Stimme & Tonmontagen

Tontechnische Assistenz: David Winter

Donnerstag, 14. Juni 2007, 20 Uhr

Der Lesetext ist die Bearbeitung eines Kapitels aus dem Roman „Die atlantische Mauer“ von Reinhard Jirgl; erschienen 2000 bei Hanser Verlag, München

Eintritt: 10 €/ ermäßigt 8 €

Die Idee zur Lesung entstand im Gespräch über den Künstler TILL HOHN, über dessen Arbeit REINHARD JIRGL bereits einen zweiten Text eben beendet hat. Er folgt der Einladung, in dem für Ausstellungen, Konzerte und Klanginstallationen genutzten Raum 7hours HAUS 19 einen seiner Texte aufzuführen.
Reinhard Jirgl hat ein Kapitel aus dem Roman „Die atlantische Mauer“ (2000, Hanser Verlag München) zur Grundlage genommen.
Jirgls Haltung zum Text schließen den Text-Körper ein. Text-Körper ist auch Klang-Körper. Reinhard Jirgl hat für die Lesung der Lesestimme des Textes Menschenschwemme..... Vom Leben in der Tiefe einen Lauttext hinzugefügt. Die Lautsprache der Lesestimme mit der Lautsprache der Ton-Aufnahmen, von ihm innerhalb des Koordinatensystems der Stadt aufgenommen, montiert, führen den Zuhörer in ein literarisches Klang-Gebäude: Text-Drama im gegebenen Raum.

"Ich suchte nicht mehr die glatte, die geschlossene Decke einer Rede; ich suchte das Stottern, das Stocken in der Rede, den 1zelnen Laut, die 1zelheit aus Bildern", heißt ein Satz einer Figur, den man ausnahmsweise dem Autor zuschreiben darf.“ zitiert Friedrich Christian Delius in seiner Laudatio Jirgl zum Alfred Döblin Preis 1993.

Reinhard Jirgl ist einer der höchstgeschätzten Sprachartisten im deutschsprachigen Raum, was ihm neben vielen Preisen auch eine Spitzenposition in den Besprechungen der Literaturkritiker eingebracht hat.

R e i n h a r d J i r g l

Vier Statements zur Lesung

Menschenschwemme….. Vom Leben in der Tiefe

Meine Räume: die Augen, die Ohren, die Nase, die Haut. Eingebrochen. Niedergestampft. Mit dreckigen stumpfen Messern. Mir den Schädel aufgestochert. Gehirn zersäbelt & gehör. Augen ausgestochen. IHREN Gestank die rostigen Pfeile mir in die Nase getrieben. Kreischend durch die Sehnen Schredder Fräsen Flexer. Mitten in den Schädel rein. Versengtes Haar. In den Wölkchen heißer Knochenstaub. Die Flexerscheibe mitten ins Gehirn: Was dich stört. !Reiß aus.
(aus „Die atlantische Mauer“, Kapitel II)

1

Mannigfaltige Angriffe unterschiedlichster Herkunft und Absicht gelten von jeher den vier sensorischen Räumen, die zu jedem Einzelmenschen gehören: dem Seh- wie dem Hörraum, dem Tast- wie dem Geruchsraum. Diese vier Räume, physiologisch individuell bestimmt, bleiben während der Lebenszeit eines Menschen weder stabil, noch kann der Betreffende jemals souverän über sie verfügen, wie schon das Alltagsleben in der dynamisch wachsenden Verstädterung zeigt. Und jene sensorisch wie semiotisch bedeutenden Räume – in und mit ihnen schließlich findet Kommunikation statt – machen die Beschreibung von Nachbarschaft von ihren Grenzen her (und damit deren Verletzungen und Überschreitungen) überhaupt erst möglich.- Zweifellos bilden im städtischen Leben Hör- und Sehraum die sensibelsten, daher den häufigsten wie den gröbsten Angriffen ausgesetzten räume; aber auch der Tastraum (seine Grenzen fallen praktisch mit der Haut zusammen) wie Geruchsraum bleiben keineswegs verschont – das weiß, wer nur einmal die städtischen verkehrsmittel zur Zeit des Berufsverkehrs benutzen mußte.- Kurz gesagt, in jedem Augenblick unseres Alltagslebens sind wir Überfällen auf unser sensorisches Eigentum schutzlos ausgeliefert.
Gegenwärtig reanimieren die von Arbeit Zerstörten und von der Zerstörung durch Arbeit aus ihren maschinell getakteten Stunden- und Lebensläufen Entlassnen und beschäftigungslos Gewordenen mit ihrem unverhofft inflationären Zeitvorrat als Ursprungs-Keimzellen den niemals verschwundenen Gesellschaftskrieg. Zum Krieg Mann gegen Frau und dem Krieg Jung gegen Alt ist der Krieg Aller gegen Alle hinzugetreten; ein Krieg, der Gesellschaft nicht zerstört, sondern bis zum gewissen Grade trägt; jedoch niemals für Konflikte-Lösung bieten kann. Gesellschaftskrieg aus der Permanenz des „Alarmzustands“, in den ein jeder in der Arbeitswelt sich versetzt fühlt, verfügt über ausufernde Leer-Zeit als Exerzierraum für um sich greifende Vermassung – das Lauernde Heer. Dem entspricht, ähnlich den Geräuschekuppeln überm verstädterten Leben, eine Staatsmacht, die buchstäblich nichts mehr zu sagen hat, die Rede der macht ersetzt durch machtvolles Brüllen, dem Getöse im „demokratischen Stadion“.

2

Wenn einem Ausspruch von Léon Bloy, wonach „der Reiche eine unerbittliche Bestie (ist); der man eine Sense in den Leib stoßen, oder die man über den Haufen schießen muß“, ich kein Widerwort entgegenzusetzen finde, so muß ich doch im gleichen Atemzug der Legende widersprechen, wonach der Arme, der Schwache oder allgemein die sozial Unterlegenen bessere Menschen seien, weil sie zumindest ein ausgeprägtes Gefühl für Solidarität besäßen…
So, wie der Reiche den Reicheren über sich hat, der ihn zu unterwerfen trachtet („Microsoftisierung“ der Wirtschaft), so findet der Arme stets den Ärmeren, dem er noch etwas wegnehmen, der Schwache den Schwächeren, auf den er einschlagen kann („Fremdenhaß“). Gesellschaft – ein Körper mit verfemten Zonen, seine Adern durchkreist vom Blut der Ressentiments. Diese, unter der Maske von Jugendlichkeit, geraten um so populärer, je deutlicher sie das Vokabular des Fortschritts reden: die Hybris als Sprache der „ewig Morgigen“, die eigentlich die ewig Fliehenden sind, deren Ranküne gegen Erfahrung nurmehr ihre Unfähigkeit zum Leben im Jetzt unterstreicht.

3

Infolge der Verwandlung des festen Ruhe-Kerns von Großstädten in Geschwindigkeiten formt sich aus dieser Periode ein Menschen-Typus heraus: der Baustellen-Typus: arbeitslos, heimatlos, ruhelos. Baustellen bedeuten zunächst: Einreißen, Aufbrechen von Gegenwart und somit Ausgraben von Vergangenheit; die Wiederkehr der Toten wie die verzögerte Auswirkung des Todes in der Gegenwart: Bomben und Munition aus vergangenen Kriegen; und zugleich von Zukunft: die leeren Büro- und Gewerbebauten, die in dieser Fülle niemand benötigt, die Schaffung von Ruinen ohne klassischen Krieg. Placiert inmitten einer sowohl gestörten als auch dysfunktionalen, ausgehöhlten und architektonisch entkernten Umwelt, erfährt dieser Typus im zeitlosen Stadtgebilde jetzt die Rückkehr von Zeit in ihrer ironischen Form als Stau- und Verzögerungs-Zeit - Synonym für Behinderungen und Unmöglichkeit.
In dieser von Ausnahme-Zuständen bestimmten (auch sozialen) Kraterlandschaft erscheint der Baustellen-Typus als der Prototyp des Paranoikers; ihm sind sämtliche Signifikanten (die überreichen, historischen Bilder und Symbole) verlorengegangen – geblieben als einziges Stereotyp ist das Bild des Zerstörten, nicht zuletzt des zerstörten Selbst.,- der angesprochene Typus indes ist nicht mehr im klassischen Sinn klinisch zu definieren; nicht mehr, seit das Klinische, entgrenzt, ins öffentliche Leben eingedrungen ist. Auch diese grenze ist verschwunden!
Der Baustellen-Typus markiert, verkürzt gesagt, innerhalb der zunehmenden Entgrenzung die Situation der Unausweichlichkeit. Deren Force – das dialektische Gegenmoment zur Entgrenzung – ist Haß als ein sowohl transitives wie auch vitales Element in unserer Gegenwart. Ich hasse, also bin ich. Er vertritt keinerlei Ideologie, er hat auch keine und schon gar keinen Glauben, allenfalls die Reste und Trümmer gewesener Ideologien, die ihm nach Belieben dazu dienen, seinen Taten ein bröckeliges Fundament von Kausalität zu unterlegen.

4

Fremden-Tod musst Du sterben 3x. Im Geiste in Emotionen im Leib.
(aus „Die atlantische Mauer“, Kapitel II)


Diesen gewaltsamen Toden durch Fremdverfügtes im dreifachen Sinn möglichst lange zu entgehn, sehe ich für mich nur den einen Weg, den ältesten: Aus den Zerstörungen Literatur machen. Weitermachen - - -

Reinhard Jirgl
* 1953 in Ostberlin, siedelt er für zehn Jahre zu seinen Großeltern in eine Kleinstadt in der Altmark. 1964 Rückkehr zu den Eltern nach Berlin. Nach Abschluss der zehnklassigen Oberschule, in Verbindung mit einer Berufsausbildung als Elektromechaniker, holt er in Abendkursen das Abitur nach. 1971 Immatrikulation an der Humboldt-Universität für das Studium der Elektrotechnik, das er 1975 als Hochschulingenieur abschließt. In diese Zeit fallen erste Schreibversuche. 1978-1995 Techniker an der Berliner Volksbühne. Reinhard Jirgl lebt als freier Schriftsteller in Berlin.

1990 Mutter Vater Roman (Aufbau Verlag) | 1990 Uberich. Protokollkomödie in den Tod (Roland Jassmann Verlag) | 1991 Im offenen Meer. Schichtungsroman (Luchterhand; 1995 Übernahme des Titels in den Carl Hanser Verlag) | 1992 Das obszöne Gebet. Totenbuch (Roland Jassmann Verlag) | 1993 Zeichenwende. Kultur im Schatten posttotalitärer Mentalität. Gemeinschaftsarbeit mit A. Madela (Bublies Verlag, Koblenz) | 1995 Abschied von den Feinden. Roman | 1997 Hundsnächte. Roman | 2000 Die Atlantische Mauer. Roman | 2002 Genealogie des Tötens. Trilogie | 2003 Die Unvollendeten. Roman | 2005 Abtrünnig. Roman (ab 1995 alle Carl Hanser Verlag)

Auszeichnungen
1993 Alfred-Döblin-Preis | 1994 Marburger Literaturpreis | 1998 Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung | 1998 Johannes-Bobrowski-Medaille | 1999 Josef-Breitbach-Preis | 2003 Kranichsteiner Literaturpreis | 2003 Rheingau Literaturpreis | 2004 Eugen-Viehof-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung von 1859 | 2004 Dedalus-Preis für Neue Literatur 2004 | 2006 Bremer Literaturpreis

Ausgewählte Pressestimmen zu ATLANTISCHE MAUER
„Solche Schriftsteller braucht das Land.“ M. Lüdke, Die Zeit, 23.03.00
„Hohe Literatur, besessene Prosa, monströs, grandios. Dichtung einer großen Einsamkeit.“ H. G. Soldat, Berliner Morgenpost, 12.03.00
„Virtuose, rhythmischer, anspielungsreicher, komplexer und zugleich eindringlicher ist in deutscher Sprache seit Johnsons >Jahrstagen< nicht mehr geschrieben worden. Jirgl bringt das Zauberkunststück fertig, zugleich hochartistisch und ungemein packend zu formulieren.“ Jochen Hörisch, Neue Zürcher Zeitung, 08.04.00
„Jirgl ist ein Virtuose, ein Formulierungskünstler abseits aller Sprachschablonen, der wahre Wort- und Lautgemälde entwirft.“ P. Walther, TAZ, 23.03.2000
„Jirgl erzählt mit düsterer Schönheit von der allem Menschlichen innewohnenden Zerstörung.“ J. Plath, Tagesspiegel, 11./12.06.00
„Jirgl ist und bleibt ein hochkarätiger Prosaist, wenn er in seiner von Joyce und Arno Schmidt inspirierten Schreibweise semantische Vielschichtigkeit herstellt und zugleich durch phonetisch akzentuierende Zeichensetzung am Text die Emphase der gesprochenen, leidenschaftlich hervorgestoßenen Suada sichtbar macht.“ E. Falcke, SZ, 12./13.02.00

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